Die 4 Prinzipien des Wing Tsun

Wer kennt sie nicht, die ‘vier Prinzipien’ des (Avci) Wing Tsun [1]. Sie sind seit vielen Jahren Bestandteil des Wissens um WT und weil über sie schon viel geschrieben wurde, sollen sie hier als bekannt vorausgesetzt werden.

Die Bedeutung der Prinzipien beweist sich allerdings nicht im Kampf selbst, sondern im Unterricht, wo das theoretische Verständnis des Kampfes und seiner Techniken vermittelt werden soll.

[Überblick] • [Voraussetzungen] • [Kontakt macht schneller] • [Kampfsituation im Beispiel] • [Ergebnisse]

Überblick

Grundsätzlich sind die vier Prinzipien unabhängig voneinander, wenn man den Kämpfer als Ganzes betrachtet. Es ist durchaus möglich, mit einem Arm oder Bein einen Angriff auszuführen (1. Prinzip, ‘Stoß vor’) und mit einem anderen Arm einem starken Angriff des Gegners nachzugeben (3. Prinzip, ‘Gib nach’).

Um allerdings ein Phänomen vollständig verstehen zu können, muß man es in seine kleinsten Bestandteile zerlegen und deren Funktion beschreiben und verstehen.

In der folgenden Arbeit wird dieser Schritt so vollzogen, daß statt des gesamten Kämpfers nur ein Teil betrachtet wird, beispielsweise die Aktion eines Armes.

Als weiteres Ziel wird auch eine verbesserte Darstellung für den Unterricht der vier Prinzipien angestrebt. Dabei soll den üblichen Grundsätzen der Didaktik ‘Vom Leichten zum Schweren’ gefolgt werden, indem zunächst der Spezialfall betrachtet wird: Wie steuert man mit den vier Prinzipien die Aktionen eines einzelnen Armes im Kampf?

Eine genaue Untersuchung der vier Prinzipien zeigt, daß unter diesen Bedingungen diese Prinzipien nicht unabhängig voneinander existieren. Man kann sie vielmehr zu einem Algorithmus (Bild 1) zusammenfassen. So ist der Kampf gewissermaßen ein ständiger Wechsel zwischen diesen Prinzipen, wobei der Wechsel nicht willkürlich, sondern nach Regeln erfolgt.

Die 4 Prinzipien im Fluß

Bild 1: Die vier Prinzipien des WT zusammengefaßt als Algorithmus eines Kampfes

Voraussetzungen

Damit die vier Prinzipien angewendet werden können, sind einige Voraussetzungen notwendig:

  1. Es muß Kontakt zum Gegner bestehen oder schnellstmöglich hergestellt werden.
  2. Auf die Bewegungen des Gegners muß mit antrainierten, taktilen Reflexen geantwortet werden können.

Wenn taktile Kampf-Reflexe vorhanden sind, macht der ‘Kontakt’ zum Gegner Sinn, weil seine Aktionen so erfühlt und beantwortet werden können.

Kontakt macht schneller

Beim Kampf in der Selbstverteidigung geht es nur um eines: Der Gegner muß aufhören oder am besten gleich flüchten.

Wie bereits erwähnt, ist der physische Kontakt zum Gegner wichtiger Bestandteil der Kampfführung. Dafür sprechen vor allem zwei Gründe:

  1. Taktile Informationsgewinnung. Die Bewegungen des Gegners können erfühlt werden.
  2. Kraftübertragung. Durch die Berührung können Kräfte und Momente ausgetauscht werden (Abstützen am Gegner).

Kontakt

Bild 2: Vorteile durch den Kontakt zum Gegner

Der zweite Punkt ist aus Sicht der Mechanik nicht zu unterschätzen: Aus dem ersten Newtonschen Axiom folgt, daß der Bewegungszustand eines Körpers (Gesamtimpuls) nur durch äußere Kräfte verändert werden kann.

Normalerweise stehen uns dazu drei äußere Kräfte zur Verfügung:

Die Schwerkraft hat eine bekannten und beschränkten Wert, daher können wir unsere Bewegung nicht beliebig schnell ändern.

Durch geeignete Bewegungsmuster, z.B. den ‘Rising-Step’, lassen sich die Reibungs- und Normalkräfte kurzzeitig erhöhen, aber prinzipiell sind sie eine Reaktion auf die Schwerkraft und damit ebenfalls begrenzt.

Sobald der Angreifer schlägt, stellt er uns weitere äußere Kräfte zur Verfügung - und wenn man mehr äußere Kräfte nutzen kann, dann kann man sich auch schneller bewegen!

Dies verträgt sich sehr gut mit dem 3. Prinzip, denn dieses verlangt, daß wir bei einem starken Gegner nicht ‘gegenhalten’. Dies würde ‘Kraft gegen Kraft’ bedeuten und da könnte dann nur der Stärkere gewinnen. Deshalb ist es günstiger, die Kraft des Gegners ins Leere laufen zu lassen und ihn nebenbei auszunutzen.

Ein Beispiel für die Nutzung der gegnerischen Kräfte ist die passive Wendung im Wing Tsun.

Zunächst bedeutet ‘passive Wendung’ nicht, daß man sich vom Gegner wie ein Sandsack bewegen läßt, sondern daß die Wendung vom Angreifer angestoßen wird und vom Verteidiger in geeigneter Weise gesteuert wird.

Bei der aktiven Wendung stehen nur die Schwerkraft und die Normal-/Reibungskräfte zur Verfügung. Bei der passiven Wendung kommt die Kraft des Gegners hinzu.

Das ist der physikalische Grund, warum die passiven Wendungen im (Avci) Wing Tsun schneller sein können als aktive Wendungen.

Weil der Kontakt im Kampf wichtig ist, muß fehlender Kontakt sofort wiederhergestellt werden. Dies geschieht am Besten durch einen schlagenden Angriff.

Blocktechniken kommen in diesem Szenario nicht vor, denn das, was man Block nennen könnte, entsteht nur, wenn zwei Angriffe aufeinander treffen. Bild 2 zeigt eine Zusammenfassung der Vorteile, die der Kontakt bringt.

Kampfsituation im Beispiel

Wie beim Schachspiel ergibt die Folge der vier Prinzipien nach kurzer Zeit einen Entscheidungsbaum, der unübersehbar ist.

Jede Analyse einer Kampfsituation muß daher unvollständig bleiben. Daher sollen hier nur einige Schritte untersucht werden:

Der Darstellung in Bild 1 scheint unvollständig, weil kein Ende dargestellt ist. Tatsächlich ist die Aufgabe des Gegners oder die eigene Niederlage aus jeder Situation heraus möglich, sie wurde wegen der Übersichtlichkeit der Grafik nur nicht dargestellt.

Ergebnisse

Betrachtet man ein einzelnes Körperteil, z.B. einen Arm, dann zeigt die Zusammenfassunge der Ergebnise:

[1] Quelle: Kernspecht, K.R., ‘Vom Zweikampf’, Wu-Shu-Verlag Kernspecht